Sprachkulturen und Sprachpolitik in Osteuropa: Interdisziplinäre Zugänge

Sprachkulturen und Sprachpolitik in Osteuropa: Interdisziplinäre Zugänge

Organisatoren
Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
12.06.2008 - 13.06.2008
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Von
Daniel Jetel, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich

Das Themenfeld Sprachkulturen und Sprachpolitik geniesst in den Fächern Osteuropäische Geschichte und Slawistik seit den Anfängen der beiden Disziplinen einen hohen Stellenwert, welcher in erster Linie durch die besondere historische Funktion von Sprache als Mittel der Integration und Abgrenzung im östlichen Teil Europas begründet ist. Mit der Entstehung neuer Staaten nach der Wende von 1989/91 und der Festlegung neuer Staatssprachen gewann das Thema zusätzlich an politischer Brisanz. Vor diesem Hintergrund lud die Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich Osteuropahistoriker/innen und Slawisten/innen für zwei Tage nach Zürich ein, um Sprachkulturen und Sprachpolitik in Osteuropa aus interdisziplinärer Perspektive zu beleuchten. In vier thematischen Blöcken von Referaten, zwei Workshops und einer abschliessenden Roundtable-Diskussion sollte die Bedeutung von Sprache in Geschichte und Gegenwart des östlichen Europa diskutiert, eine Bilanz der bisherigen Forschung in diesem Bereich gezogen und Möglichkeiten und Spielräume der Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen Osteuropäische Geschichte und Slawstik ausgelotet werden. Die Tagung, welche von der Hochschulstiftung der Universität Zürich finanziell unterstützt wurde, setzte nicht zuletzt auch die Reihe der Schweizerischen Graduiertenkurse fort. Diese fanden zum ersten Mal 1999 ebenfalls in Zürich statt und sind als Forum für den Austausch zwischen dem schweizerischen wissenschaftlichen Nachwuchs und etablierten Fachvertretern gedacht.

In ihrer Begrüssungsrede ging Gastgeberin NADA BOŠKOVSKA (Zürich) kurz auf die Spezifika der Genese der Sprachen im östlichen Europa ein und verwies auf die Relevanz des Tagungsthemas für die Geschichte dieses Raumes. Infolge der ethnischen und sprachlichen Heterogenität sowie der häufigen Herrschaftswechsel und Grenzänderungen komme Sprache in Vergangenheit und Gegenwart Osteuropas vor allem als Integrations-, Abgrenzungs- und Machtmittel eine besondere politische, soziale und kulturelle Bedeutung zu. Boškovska zeigte auf, weshalb sich der Raum, mit dem sich Osteuropahistoriker/innen und Slawisten/innen auseinandersetzen, daher vorzüglich für die Erforschung von Sprachpolitik und Sprachkulturen eigne.

Der erste thematische Block befasste sich unter der Moderation von Nada Boškovska mit der Sprachpolitik in Südosteuropa, also einem Raum, wo die Eingangs angesprochenen sprachlichen, ethnischen und politischen Charakteristika Osteuropas besonders stark hervortreten. STEFAN DIETRICH (Zürich) gab einleitend einen historischen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Serbokroatischen. Ausgehend von der ethnischen, politischen und kulturellen Heterogenität dieses Raumes auf der einen, der Nähe der südslawischen Idiome und Dialekte auf der anderen Seite ging der Referent ein auf die sprachwissenschaftlichen und sprachpolitischen Konzepte und Bestrebungen zur Bildung einer einheitlichen südslawischen Sprache vom 19. Jahrhundert bis zur Errichtung der Königsdiktatur in Jugoslawien 1929. Dietrich hob dabei ganz besonders die Abhängigkeit, aber auch die Wechselwirkung zwischen Sprache und Politik sowie zwischen Politik und Sprache hervor. Den entgegengesetzten Prozess der Desintegration des Serbokroatischen stellte die Sprachpolitik im Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) dar, über welche MIRA JOVANOVIĆ (Zürich) referierte. Im Rahmen ihrer nationalistischen Ideologie betrieb das Ustascha-Regime zwischen 1941 und 1945 eine rigorose Sprachpolitik mit dem Ziel, eine selbständige kroatische Standardsprache zu schaffen und alle „nicht-kroatischen“ linguistischen Formen auszumerzen. Die sprachpolitischen Massnahmen reichten vom Verbot der kyrillischen Schrift über die Beseitigung von angeblichen Serbismen bis zur Prüfung von Neologismen auf die Vereinbarkeit mit den Regeln der (zu bildenden) kroatischen Sprache. Anhand von einigen der insgesamt 291 Sprachempfehlungen des Kroatischen Staatsamtes für die Sprache zeigte Jovanović die Gründlichkeit, aber auch Absurdität der Ustascha-Sprachpolitik auf. Das Referat machte deutlich, von welcher Bedeutung die Macht über die Sprache und damit auch die Macht durch Sprache für Ideologie und Staat der Ustascha war. Die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlug MIA-BARBARA MADER SKENDER (Zürich/Zagreb) in ihrem Referat zu Genese und Entwicklungsstand des Kroatischen im heutigen Kroatien. Der kroatische Fall scheint für linguistische Analysen insofern geeignet zu sein, als Kroatien von allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens am konsequentesten die Abkehr vom Serbokroatischen und die Bildung einer eigenständigen kroatischen Sprache betreibt. Die Referentin stützte sich in den Ausführungen auf ihre Lizentiatsarbeit, in welcher sie der Frage nachging, wie weit das Kroatische in den 17 Jahren staatlicher Unabhängigkeit im Prozess des Übergangs von einer Standardsprache zu einer Ausbausprache fortgeschritten ist. In einem ersten Teil gab Mader Skender eine Übersicht der gegenwärtigen Strömungen in der Kroatistik und schnitt die Rolle kroatischer Linguisten in der offiziellen Sprachpolitik Kroatiens an. Die Ausführungen machten deutlich, dass es unter den Linguisten in Kroatien kaum Zweifel über die Eigenständigkeit und Kontinuität des Kroatischen gibt – ein aus wissenschaftlicher Sicht höchst problematischer Standpunkt. Im zweiten Teil des Referates ging Mader Skender ein auf die im Rahmen der offiziellen kroatischen Sprachpolitik propagierten Veränderungen auf lexikalischer, grammatikalischer und syntaktischer Ebene und fragte nach der Verwendung und Akzeptanz dieser Veränderungen in der Sprachpraxis. Während sich die zahlreichen kroatischen Neologismen in der Publizistik des Landes scheinbar durchgesetzt haben, ergab eine von der Referentin in Zagreb durchgeführte Umfrage, dass die kroatischen Wortschöpfungen der Bevölkerung bis heute nur wenig vertraut sind. Die drei Beiträge des ersten Themenblocks zeigten deutlich, welche entscheidende soziale und politische Funktion im südosteuropäischen Raum Sprache als Identifikationsmerkmal und damit Mittel der Integration bzw. Abgrenzung ausübte – und dies von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Die sprachliche Vergemeinschaftung und der Sprachnationalismus in Ostmitteleuropa waren Thema des zweiten Blocks, welcher von GERMAN RITZ (Zürich) eingeführt und moderiert wurde. Im ersten Referat befasste sich ROLF FIEGUTH (Fribourg) mit dem polnischen Dichter Cyprian Norwid (1821-1883) und dessen Konzeption für die polnische Sprache und Kultur. Vor dem Hintergrund der Situation des Polnischen im 19. Jahrhundert legte Fieguth die zentralen Elemente von Norwids Sprach- und Kulturverständnis dar, welches sich in vielem von den damals dominierenden nationalpolnischen Ideen und Programmen unterschied. So rieb sich Norwid an der Kleingeistigkeit seiner polnischen Zeitgenossen, die sich in pathetischen Klagen und kleinlichen Polemiken erschöpften, sich gegenüber der westlichen Moderne abschotteten und auf sprachlicher Ebene gegen Germanismen und Russizismen ankämpften. Demgegenüber propagierte Norwid ein für die geistigen Ideen der Welt offenes Programm für die Entwicklung der polnischen Kultur und betonte die Bedeutung der Sprachstandardisierung, Alphabetisierung, des Ausbaus des Verlagswesens und allen voran des auf der Wortkultur beruhenden Parlaments (Sejm) für die Entwicklung der polnischen Sprache. Als klarster literarischer Ausdruck von Norwids Programm für die polnische Kultur und Sprache kann gemäss Fieguth das Gedicht „Über die Freiheit des Wortes“ von 1867 gelten. Die Sprachkonzeption des rechten politischen Lagers im Polen der Zwischenkriegszeit untersuchte ISABELLE VONLANTHEN (Fribourg/St.Gallen) am Schaffen polnischer nationalistischer Dichter jener Zeit. Die Referentin betonte, dass trotz der Heterogenität des „rechten Lagers“ allen Gruppierungen und Strömungen die Forderung nach einem polnischen nationalen Stil (polskość) als ästhetischer Ausdruck der Nation und Manifestation der nationalen Kultur gemein war. Dieser nationale Stil zeichnete sich durch drei zentrale Elemente aus: Ursprünglichkeit, Reinheit und Männlichkeit. An der Dichtung von Jerzy Pietrkiewicz und Konstanty Dobrzyński zeigte Vonlanthen auf, wie die genannten drei Hauptelemente die literarische Schöpfung der nationalistischen Dichter durchdrangen. Zentraler Bestandteil der Monopolisierung der Sprache durch das rechte Lager und der Konstruktion einer polnisch-nationalistischen Sprachkultur war auch die Abwehr ausländischer Literaturströmungen im Allgemeinen und der in- und ausländischen Avantgardebewegung im Besonderen. Als Gegenstück zum literarischen Schaffen des rechten Lagers ging die Referentin abschliessend noch auf die polnisch-jüdische Dichter und deren Sprachkonzeption ein. Im letzten Referat des zweiten Blocks setzte sich DANIEL WEISS (Zürich) kritisch mit der Sprachpolitik in den ehemaligen Sowjetrepubliken Estland und Lettland auseinander. Ausgehend von theoretischen Überlegungen zu Faktoren der Sprachpolitik im allgemeinen ging Weiss auf die wichtigsten Massnahmen ein, welche von den Regierungen in Tallinn und Riga seit der Unabhängigkeit 1991 auf dem Gebiet der Sprache und Staatsbürgerschaft eingeleitet wurden, und zeigte die Folgen dieser Politik für den Status des Russischen und der russischsprachigen Bevölkerung in diesen Staaten auf. So führte die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Kenntnissen der estnischen bzw. lettischen Sprache unter anderem zur absurden und unhaltbaren Situation, dass heute ein grosser Teil der russischsprachigen Bewohner der beiden Baltenstaaten staatenlos ist. Die Ausführungen von Weiss zeigten beispielhaft auf, wie infolge politischer Umbrüche, der damit einhergehenden Änderungen der Machtverhältnisse zwischen Ethnien und Sprachgruppen und nicht zuletzt dank einer gezielten Sprachpolitik in relativ kurzer Zeit ein Dominator zum Dominierten werden kann. In diesem Sinne stehen Estland und Lettland lediglich am Ende einer langen historischen Reihe ähnlicher Prozesse im östlichen Teil Europas.

Der zweite Konferenztag begann unter der Moderation von ULRICH SCHMID (St.Gallen) mit einem Block zu Sprachpolitik und sprachlicher Vergemeinschaftung im Russischen Reich und der Sowjetunion. Im ersten Referat befasste sich EKATERINA EMELIANTSEVA (Zürich/Basel) mit der Wechselwirkung zwischen der sich herausbildenden Freizeitkultur und der Sprache der Freizeitkultur einerseits, der Entstehung der modernen urbanen Gesellschaft im späten Zarenreich andererseits. Am Beispiel des Fussballs und der Entwicklung der Fussballsprache in Russland zeigte die Referentin auf, wie die neue Sprache der Freizeitkultur zur Herausbildung einer neuen städtischen Gesellschaft beigetragen konnte. Von besonderer Bedeutung in diesem Prozess der sprachlichen Vergemeinschaftung waren die Übernahme englischer Fussballtermini, deren Aufnahme in der russischen sozialen Realität und Adaptation an die russische Sprache sowie die ersten systematischen Versuche der umfassenden Russifizierung der Anglizismen. Die Ausführungen von Emeliantseva machten deutlich, dass die Normierung und Nationalisierung der Fussballsprache im spätzaristischen Russland – im Unterschied etwa zu Deutschland – nur schwer durchsetzbar war und erst unter dem kommunistischen Regime gelang. Die Referentin erklärte sich diesen Umstand mit dem Geist des Kosmopolitismus, welcher den Fussballsport im Besonderen und die Freizeitkultur im Allgemeinen prägte. Der darauf folgende Vortrag von VERA SPIERTZ (Basel) thematisierte Sprachpolitik und sprachliche Vergemeinschaftung in der Sowjetunion der 20er-Jahre am Beispiel der Sprache der Rotarmisten. Im Fokus der Ausführungen stand eine Untersuchung, welche russische Linguisten in offiziellem Auftrag 1924 und 1925 in der Moskauer Garnison durchgeführt haben.1 Diese Studie war eines von vielen sprachwissenschaftlichen Experimenten in den ersten Jahren der Sowjetunion, welche Aufschluss über die Verankerung der von oben propagierten neuen Sprache des Bolschewismus und damit gleichzeitig über den Grad der gesellschaftlich-politischen Entwicklung geben sollten. Gemäss Spiertz drückt sich in der Untersuchung „Die Sprache des Rotarmisten“ deutlich das pragmatische Sprachverständnis der frühen Sowjetphase aus, wonach der Rotarmist als Objekt der sozialpolitischen Einflussnahme anhand der Sprache politische und kulturelle Kompetenzen erlangen sollte. Die Studie zeige nicht zuletzt auch Möglichkeiten und Grenzen der politischen Aufklärungsarbeit in der Roten Armee. In die Sprache des Films führte das Referat von AGLAIA WESPE (Basel). Die Historikerin gab Einblick in ihr laufendes Dissertationsprojekt, in welchem sie die Geschlechterverhältnisse im spätsowjetischen städtischen Alltag in Interviews mit in der Schweiz lebenden Russen/innen sowie durch Analyse von Filmen des Leningrader Dokumentarfilmstudios zu beleuchten sucht. In ihrem Vortrag beschränkte sich Wespe auf die zweite Quellengruppe und zeigte am Beispiel des Dokumentarfilms Trudnye rebjata (Schwierige Jungs) von 1966 ihr methodisches Vorgehen bei der Filminterpretation auf. Bei der Frage nach der Darstellung von Alltagsleben und Geschlechterverhältnissen in den sowjetischen Filmen der 60er bis 80er Jahre stützt sich Wespe auf das Konzept der informellen Öffentlichkeit von Victor Voronkov und Elena Zdravomyslova sowie den Begriff des „institutionellen Genderismus“ von Erving Goffman. 2

Der vierte und letzte thematische Block der Tagung stand unter dem Titel „Sprachliche Vergemeinschaftung und kultureller Kontakt“ und wurde von DESANKA SCHWARA (Bern) eingeleitet und moderiert. Das Referat von PETER COLLMER (Zürich) zur Verwaltungssprache in Polen-Litauen im 18. Jahrhundert basierte auf dem laufenden Habilitationsprojekt des Referenten zur Herrschaftsorganisation der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Collmer ging in seinen Ausführungen der engeren Frage nach, wie Sprache im Kontext von Herrschaft bewusst eingesetzt wurde oder einfach in Erscheinung trat. Der Referent präsentierte interessante Beobachtungen zu Sprachgebrauch und Sprachkultur in der Verwaltung der Adelsrepublik, welche er an einigen aussagekräftigen Quellenbeispielen illustrierte. So lassen sich gemäss Collmer in der mehrsprachigen Verwaltung Polen-Litauens (Latein, Deutsch, Französisch, Polnisch) aus der Wahl der jeweiligen Sprache Rückschlüsse auf historisch gewachsene administrative und juristische Standards sowie auf Prozesse des Kulturkontakts und des Know-How-Transfers ziehen. Zudem sei eine explizite Sprachpolitik sowohl von Seiten der sächsischen Könige als auch des Sejm zu beobachten, wobei das Polnische in den letzten Jahrzehnten der Adelsrepublik im Zuge der Genese eines neuen Verständnisses der polnischen Nation auch in der Verwaltung gegenüber den anderen Sprachen an Boden gewann. Über Dolmetscher im späten Zarenreich referierte JÖRN HAPPEL (Basel), wobei er das Augenmerk auf die Dolmetscher-Tätigkeit russischer Offiziere in den zentralasiatischen Provinzen des russischen Imperiums richtete. Nachdem der Referent einleitend einen Überblick über die Entwicklung des Dolmetscherwesens in Russland gegeben hatte, beschrieb er am Beispiel zweier Armeedolmetscher (Kapitän Kondrat’ev und Leutnant Romanovskij) die Rolle, welche Dolmetscher im Zarenreich beim Herrschaftsaufbau und -ausbau aber auch beim Kulturtransfer spielten. Umso mehr überraschte die geringe Stellung der Dolmetscher innerhalb der imperialen Verwaltung. Den Schlusspunkt unter die Reihe der Referate setzte DANIEL HENSELER (Fribourg) mit einer Tiefensonde in die Sprache und Sprachphilosophie des polnischen Schriftstellers Mariusz Wilk (geboren 1955). Wilk, welcher seit den 90er Jahren vorwiegend im Gebiet nördlich von St.Petersburg lebt, reflektiert in seinen Reisenotizen für die französische und polnische Presse wiederholt die vielfältige Bedeutung und Funktion von Sprache im Allgemeinen, der russischen und polnischen Sprache im Besonderen. Henseler analysierte Wilks Sprache sowohl als Subjekt seiner Texte als auch als Objekt seiner Reflexion. Aus sprachphilosophischer und linguistischer Sicht sind in Wilks Denken und Wirken vor allem die Russizismen von besonderer Bedeutung. Der Referent betonte hierbei die zweifache Funktion dieser spezifisch russischen Begriffe in Wilks Werk: Einerseits stellen für Wilk die Russizismen einen Ausdruck der Besonderheit und Einmaligkeit der russische Kultur dar, andererseits versucht Wilk durch den Gebrauch von Russizismen im Polnischen bewusst auf die Sprache seines Herkunftslandes einzuwirken. In dieser sprachschöpferischen und sprachsteuernden Arbeit sieht der Referent zu Recht einen Schritt von der Poetik hin zur Politik – konkret zur Sprachpolitik. Inwiefern Wilks „Sprachpolitik“ in Polen Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten.

Die Tagung endete mit einer Roundtable-Diskussion, in welcher die anwesenden Dozierenden aus Slawistik und Osteuropäischer Geschichte der Deutschschweizer Hochschulen unter der Leitung von Nada Boškovska einige zentrale Punkte des Tagungsthemas erneut aufgriffen. Bei der Frage nach Voraussetzungen von Sprachpolitik und insbesondere einer erfolgreichen Sprachpolitik verwiesen die meisten Diskussionsteilnehmer auf die Bedeutung der jeweiligen politischen Machtverhältnisse und des Zeitfaktors – Faktoren, welche bereits Daniel Weiss in seinem Referat genannt hatte. Die Dozierenden waren sich einig, dass Sprachpolitik nicht zwingend von staatlichen Institutionen ausgehen müsse, sondern auch von Einzelpersonen betrieben werden könne – wie unter anderem das Beispiel von Mariusz Wilk zeigte. Hier stellte sich aber gleichzeitig die Frage nach der sprachpolitischen Macht von Individuen. German Ritz vertrat die Meinung, dass im 19. Jahrhundert Individuen für die Sprachpolitik entscheidend waren, während im 20. Jahrhundert Sprachpolitik mehr und mehr von staatlichen Institutionen oder zumindest Kollektiven betrieben wurde und wird. Diese These scheint zumindest für die westslawischen Sprachen angesichts der radikal unterschiedlichen politischen und staatlichen Bedingungen vor und nach 1918 plausibel. In diesem Zusammenhang wurde schliesslich auch das Problem der Abgrenzung zwischen Sprachpolitik und Sprachwissenschaft angeschnitten. Es herrschte Einigkeit darüber, dass Linguisten bzw. linguistische Argumente unverzichtbar und teilweise entscheidend für eine erfolgreiche Sprachpolitik waren und immer noch sind; stellvertretend für viele Fälle verwies Ulrich Schmid auf die Rolle von Sprachwissenschaftlern bei der Konstruktion des Ukrainischen und Moldawischen.

Die Tagung Sprachkulturen und Sprachpolitik in Osteuropa umfasste eine grosse Palette an Beiträgen aus drei Jahrhunderten und allen Regionen Osteuropas und wurde dem Anspruch eines Austauschs zwischen Osteuropahistorikern/innen und Slawisten/innen vollumfänglich gerecht. Die Referate gaben einen fundierten Einblick in innovative Forschungsthemen und Ansätze, spiegelten die Mannigfaltigkeit möglicher Fragestellungen in Sprach- und Geschichtswissenschaft wider und zeigten Wege der Weiterarbeit auf. Von besonderem wissenschaftlichem Wert war die interdisziplinäre Ausrichtung der Referate, welche sich allesamt im thematischen und methodischen Übergangsbereich zwischen den Disziplinen Osteuropäische Geschichte und Slawistik bewegten. Allerdings erlaubte gerade die durch die Heterogenität Osteuropas und die Interdisziplinarität der Tagung bedingte Bandbreite der Themen, eher Teilbilanzen zu ziehen, denn übergreifende Synthesen zu formulieren.
Hier liesse sich an die Zürcher Tagung anknüpfen, indem man in weiteren Schritten gezielter und umfassender Sprachkulturen und Sprachpolitik in einzelnen Epochen, Gesellschaftsbereichen und/oder Teilregionen Osteuropas untersuchen würde.

Konferenzübersicht:

Block I: Sprachpolitik in Südosteuropa
Moderation und Kommentar: Nada Boškovska (Zürich)
Stefan Dietrich (Zürich): Die serbokroatische Standardsprache. Ein historischer Rückblick
Mira Jovanović (Zürich): Sprachpolitik im Unabhängigen Staat Kroatien 1941-1945
Mia-Barbara Mader Skender (Zürich/Zagreb): Die kroatische Standardsprache auf dem Weg zur Ausbausprache - Untersuchungen der Akzeptanz unter den Sprechern

Workshop I: Die religiösen Wurzeln des Sprachnationalismus
Leitung: Yannis Kakridis (Bern)

Block II: Sprachliche Vergemeinschaftung und Nationalismus(-ismen) in Ostmitteleuropa
Moderation und Kommentar: German Ritz (Zürich)
Rolf Fieguth (Fribourg): „Freiheit des Wortes“. Cyprian Norwids Konzeption für eine unterdrückte Sprache
Isabelle Vonlanthen (Fribourg/St.Gallen): I rzucimy za chwilę nasze jędrne, zdrowe, pachnące ziemią słowo narodowe. Sprachmonopolisierung im Dienste des Vaterlands – das Schaffen polnischer nationalistischer Dichter in der Zwischenkriegszeit
Daniel Weiss (Zürich): Der Dominator als Dominierter. Der Status des Russischen in den heutigen baltischen Staaten

Öffentlicher Vortrag
Angelika Linke (Zürich): Sprachkultur und Bürgertum. Über Sprachstandardisierung und die Peinlichkeit falscher Dative im Deutschland des 19. Jahrhunderts

Block III: Sprachpolitik und sprachliche Vergemeinschaftung im Russischen Reich und der Sowjetunion
Moderation und Kommentar: Ulrich Schmid (St.Gallen)
Ekaterina Emeliantseva (Zürich/Basel): Freizeitkultur und Sprache in Russland am Vorabend des I. Weltkrieges
Vera Spiertz (Basel): Sprachexperimente in der Roten Armee der späten 1920er-Jahre
Aglaia Wespe (Basel): Gendermemory – Genderimages. Geschlechterverhältnisse im spätsowjetischen Alltag

Workshop II: Neologismen, kreative Wortbildungen und Wortspiel in der russischen Presse
Leitung: Sibylle Kurt (Zürich)

Block IV: Sprachliche Vergemeinschaftung und kultureller Kontakt
Moderation und Kommentar: Desanka Schwara (Bern)
Peter Collmer (Zürich): Verwaltungssprache in Polen-Litauen im 18. Jh.
Jörn Happel (Basel): Stimmen der Imperien. Dolmetscher im Zarenreich und in der Sowjetunion
Daniel Henseler (Fribourg): Mariusz Wilk reist nach Russland und erfindet die polnische Sprache neu

Roundtable & Schlussdiskussion
Mit Nada Boškovska (Zürich), Desanka Schwara (Bern), Yannis Kakridis (Bern), German Ritz (Zürich), Ulrich Schmid (St.Gallen), Daniel Weiss (Zürich)

Anmerkungen:
1 I.N. Spil’rejn; D.I. Pejtenborg; G.O. Neckij, Jazyk krasnoarmejca. Opyt issledovanij slovarja krasnoarmejca Moskovskogo garnizona, Leningrad 1928.
2 Voronkov, Victor; Zdravomyslova, Elena, The informal public in Soviet society. Double Morality at work, in: Social research 69 (2002), S. 49-69. Goffman, Ervin, Das Arrangement der Geschlechter, in: Ders., Interaktion und Geschlecht, Frankfurt am Main 2001, S. 105-158.


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